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Das Jahr 1511 - Emmerich am Rhein
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Nie hätte Ties gedacht, dass er es einmal schaffen würde, aber in diesem Winter war es so außergewöhnlich kalt, dass er den zugefrorenen Rhein zu Fuß überquert hatte. Er war geradewegs zum Hafen von Emmerich gelaufen. Foto: ©FlaggschiffFilm
Von Weitem hatte die Stadt wie ein Gemälde ausgesehen. Die vielen Türme glitzerten, als wären sie mit einem Silberfaden umwickelt. Die Schiffe im Hafen lagen regungslos im Eis, und selbst der große Holzkran war festgefroren. Aber darum herum bemerkte Ties beim Näherkommen rege Betriebsamkeit. Dutzende Männer hackten Eisblöcke aus dem Fluss. Auf Schlitten wurden sie zu den vielen Eiskellern befördert, darunter auch der Eiskeller der Hanse, in dem Fisch gelagert wurde. Mit Eisblöcken dieser Größe konnten die Keller problemlos ein Jahr lang kühl gehalten werden. Andere Schlitten brachten noch immer Waren an Land, die von gestrandeten Schiffen stammten. Jung und Alt vergnügten sich auf Schlittschuhen. Entlang der Stadtmauer gab es Stände und Feuerkörbe. Zwischen all der Betriebsamkeit standen etwa ein Dutzend Gestalten regungslos und still. Es waren Schneeskulpturen.
Ties ging auf einen gut modellierten, mannshohen Schneemönch zu. Ein Mädchen strich die letzten Unebenheiten in Form. „Hast du das gemacht?“, fragte Ties. „Sehr gelungen!“ Hinter der Schneestatue trat jemand hervor. Ein junger Augustinermönch. Zweifellos hatte er Modell gestanden. „Das ist mein Bruder, Heinrich Himmel“, sagte das Mädchen. „Oder, wie er jetzt genannt wird, Bruder Augustin. Er lebt in Köln, ist aber vorübergehend wieder hier. Ich habe ihn aus Schnee geformt, dann bleibt er länger bei uns. Bis das Tauwetter einsetzt.“ „Familienbesuch?“, fragte Ties. „Leider Arbeit, es ist immer die Arbeit“, antwortete der Mönch. „Ein Treffen mit dem Rektor des Gymnasiums, um Schüler für unser Kloster in Köln anzuwerben.“
„Bruder Augustin, etwas Wein?“ Ein Händler hielt ihm einen Becher hin. „Nein, danke. Gib ihn dem Spielmann. Er sieht ziemlich durchgefroren aus.“ Ties nahm den Becher entgegen. Ein harter Brocken klapperte darin. „Ein Stein?“ Das Mädchen lachte. „Nein, gefrorener Wein. Stell ihn neben einen Feuerkorb. Dann kann man ihn schnell wieder trinken, und er wird sogar schön warm.“ Der Händler zwinkerte ihm zu. „Der Handel geht weiter. Ob es friert oder nicht.“