Hören Sie...
Das Jahr 1506 - Bislich
- Lesezeit 5 Minuten
- 2206 x bekeken
Das Wasser des Rheins stand an diesem Frühlingsmorgen sehr hoch. Die spiegelnde Oberfläche schien doppelt so breit zu sein wie gewöhnlich.
ourismus NRW e.V.
„Guten Tag!“ Überrascht von der unerwarteten Stimme sah Ties sich um. Am Fuße des Deiches sah er einen rot-weiß gekleideten Mann, der sein Pferd in den überfluteten Flussauen trinken ließ. Der Mann lachte ihn an. „Morgen!“, grüßte Ties zurück. Er ging zu einem Gespräch hinunter. „Du musst früh aufgebrochen sein, wenn du dein Pferd schon in der Morgendämmerung zur Tränke führst.“ „Ja, das musste ich. Ich habe zwölf Briefe bei mir, die heute Abend in Kampen sein müssen.“ „Die Hansestadt Kampen an der Zuiderzee? Dafür benötigt man sechs Tagesreisen! Musst du noch den ganzen Weg dorthin zurücklegen?“, fragte Ties erschrocken.
Der Mann schüttelte den Kopf. „Nicht ich, die Briefe. Ich bringe sie bis nach Rees. Dort übernimmt sie ein anderer Bote, um sie in Arnheim dem nächsten zu übergeben, der ebenfalls 22 Meilen zurücklegt, und so weiter bis zum Haus der Hanse in Kampen. Dort holen die Kaufleute die versiegelten Briefe ab, die ich heute Morgen von ihren Handelspartnern in Dinslaken erhalten habe. Ein gutes System, findest du nicht auch?“ Ties nickte bewundernd. „Ah, du bist ein Briefbote der Hanse. Daher deine Kleidung.“ „Und der letzte Bote verbringt die Nacht am Zielort, damit er die Antwortbriefe gleich am nächsten Morgen wieder mitnehmen kann.“
„Wie praktisch! Und die Leute vertrauen all diesen Boten?“ „Ja, natürlich! Wenn mit diesen Briefen etwas passiert, werde ich nie wieder eine anständige Arbeit bekommen. Und es gibt keine schönere Arbeit als diese. Die einzige Gefahr sind jetzt die Pferdediebe. Aber früher war ich Bote im Dienste des Adels, und dort wird man wie ein Fußabtreter behandelt. Einmal wurde ich sogar geschlagen, weil der Inhalt eines Briefes dem Empfänger nicht gefiel. Als ob ich ihn geschrieben hätte. Und ich kenne sogar die Geschichte eines flämischen Ritters, der nach dem Lesen einer Nachricht so wütend wurde, dass er den Boten, der den Brief gebracht hatte, zwang, ihn aufzuessen. Samt Siegel und allem Drum und Dran. Bei der Hanse habe ich zum Glück nichts mehr mit dem Adel zu tun!“