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Das Jahr 1496 - Neuss

  • Erstellt von Joke Eikenaar
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Am Kai ertönten die letzten Klänge seines Liedes. Zufrieden sah Ties, dass seine Worte Wirkung zeigten. Einige Zuschauer wischten sich die Tränen von den Wangen und rieben ihre roten Augen. Foto: ©FlaggschiffFilm

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Ties hatte mehrere Lieder gesungen, doch nur das Lied über die Belagerung von Neuss vor 20 Jahren hatte sein Publikum zu Tränen gerührt. Kein Wunder, denn die Kulisse untermalte seine Geschichte auf die bestmögliche Art und Weise. Die Zuschauer standen vor dem schmalen Tranktor und blickten auf die zerstörte Stadtmauer, hinter der das Quirinus-Münster in den Himmel ragte. In seinem Lied ging es um die 20.000 Soldaten, die vor den Toren der Stadt gestanden und darauf gewartet hatten, dass sich Neuss ergeben würde. Aber nein. Die Einwohner der Stadt hatten sich verteidigt. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind. Selbst als es wochenlang nichts zu essen gab, hatte man den Mut nicht verloren. Während die Stadt buchstäblich wankte, wurde eine inbrünstige Prozession abgehalten, um die Hilfe des heiligen Quirinus zu erbitten. Das Wunder ließ nicht lange auf sich warten! Kurz nach der Prozession flog eine hohle Kanonenkugel über die Stadtmauer, in der sich eine Botschaft verbündeter Truppen befand. Die Stadt sollte schnellstmöglich befreit werden. Der Jubel war groß, der Hunger war für eine Weile vergessen. Der Feind, der den Jubel hörte, begriff endlich, dass die Bewohner ihre Stadt niemals aufgeben würden.

Ties verbeugte sich und streckte den Zuhörern seine mitgebrachte Holzschale entgegen. Nur einige weniger Zuhörer warfen eine Münze hinein, die meisten Stadtbewohner eilten davon. Ties verstand die Welt nicht mehr. Ihnen hatte es doch gefallen, oder etwa nicht? Warum wollten sie nichts zahlen? Eine ältere Frau kam auf ihn zu. „Weißt du, Spielmann. Wir waren dabei. Wir haben es selbst erlebt. Wir haben Vögel und Baumrinde gegessen, bis es keine Bäume mehr gab und die Vögel wegblieben. Danach aßen wir Gras. Unsere Toten lockten die Ratten an. Wir aßen die Ratten und wurden krank. Jeder von uns hat geliebte Angehörige verloren. Sing dein Lied über Neuss in einer anderen Stadt, aber bitte nicht hier. Als könntest du das Leid auch nur ansatzweise begreifen.“ Ties schluckte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Die Frau sah ihn an. „Das Einzige, was uns tröstet, sind die Hanserechte, die wir nach der Belagerung erhalten haben. Als Dank für unser Durchhaltevermögen.“

Erstellt von Joke

Joke Eikenaar ist Illustratorin und Schriftstellerin und lebt in der Nähe von Zwolle. Geschichte ist ihre Leidenschaft. Besonders fasziniert ist sie von der Geschichte der niederländischen Länder. Für ihre historischen Romane und Geschichten recherchiert sie mit viel Liebe.